Über Nähe und Distanz zwischen Ost und West
Fast alle Menschen wünschen sich ein erfülltes Leben. Und viele suchen bewusst danach. Sie finden verschiedene Philosophien und Konzepte, die ihnen Glück und Orientierung versprechen. Zwei Beispiele dafür möchte ich hier vorstellen: Das eine findet sich mit dem japanischen Wort ikigai. Für das andere steht das Lebenswerk Viktor Frankls, in dem sich die Frage nach dem Sinn des Lebens spiegelt. Diese Beispiele stehen für verschiedene Traditionen und unterschiedliche Kulturen. Und doch haben sie viele Gemeinsamkeiten und stehen in einem direkten Bezug zueinander.
In diesem Blogbeitrag geht es um die Verbindung zwischen der Logotherapie von Viktor Frankl und Ikigai. Ich zeige, wie sich diese beiden Ansätze ergänzen und verstärken. Besonders zu würdigen ist dabei die japanische Psychiaterin Kamiya Mieko.
I. Ikigai
Kamiya hat mit einem Buch aus dem Jahr 1966 „Ikigai“ populär gemacht. Es ist zu einer Idee geworden, die sich erklären lässt als „das, was das Leben lebenswert macht“. Diese Idee ist in den letzten Jahren im Kontext der Suche nach Lebenssinn und Zufriedenheit sehr beliebt geworden. Das japanische Wort setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen: „iki“ (生き) bedeutet Leben und „gai“ (甲斐) bedeutet Sinn, aber auch Wert oder Inhalt. Ikigai ist ein japanischer Alltagsbegriff, der so viel bedeutet wie „Lebensinhalt“ oder „Lebenssinn“.
In der im Westen verbreiteten Sichtweise beschreibt Ikigai die Schnittmenge von vier Schlüsselelementen des Lebens:
- von dem, was man liebt,
- dem, was man gut kann,
- dem, was die Welt braucht und
- dem, wofür man bezahlt wird.
Wenn diese vier Aspekte übereinstimmen, hat man „sein“ Ikigai gefunden. Es handelt sich um eine Lebenssituation, in der Leidenschaft, Mission, Beruf und Berufung zusammenstimmen und der Person so ein Gefühl von Sinn und Erfüllung geben.
II. Viktor Frankl und die Logotherapie
Viktor Frankl war ein österreichischer Arzt. Er ist vor allem für sein Buch „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ bekannt. Darin erklärt er, wie Menschen ihr Leben aus der Sinnfrage heraus neu verstehen können. Er begründet außerdem die Logotherapie als Kritik an, aber auch als Ergänzung zur herkömmlichen Psychotherapie, wie er sie in Wien bei Sigmund Freud und Alfred Adler kennengelernt hat.
Die Logotherapie rückt die Sinnsuche des Menschen in den Blick und begründet so, warum sie zu den Begriffen der Lust und der Macht auf Distanz geht. Er entwickelte er eine Auffassung, in deren Mittelpunkt die Idee steht, dass die Suche nach dem Sinn des Lebens eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Motivation für Menschen ist. Frankls Ideen wurden nicht zuletzt auch durch seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geprägt.
Frankls Logotherapie beruht auf drei Grundsätzen:
- Das Leben hat immer einen Sinn, auch wenn das Leben schwer zu ertragen und der Sinn nicht offenbar ist.
- Der Mensch ist auf Sinn ausgerichtet und sein Leben von einem Willen zum Sinn getragen.
- Sinn kann man in dem finden, was man macht oder erlebt, oder in der Art und Weise, wie wir mit Leid umgehen.
III. Gemeinsamkeiten zwischen dem Konzept Ikigai und Logotherapie
Ikigai und Frankls Denken haben wesentliche Gemeinsamkeiten, auch wenn sie aus unterschiedlichen Kulturen kommen. In den folgenden Punkten werde ich einige Gemeinsamkeiten herausstellen.
1 Die zentrale Bedeutung des Sinns
Sowohl Ikigai als auch Frankls Logotherapie zeigen, dass es im Leben um Sinn geht. Ikigai hilft dem Menschen, herauszufinden, was er wirklich will. Dafür muss er herausfinden, was er gerne macht, was er gut kann und was er in der Gesellschaft beitragen kann. Frankl sagt, dass der „Wille zum Sinn“ der wichtigste Grund ist, warum Menschen etwas tun. Dieser Wille ist sogar wichtiger als das Streben nach Vergnügen oder Macht.
Der Brückenschlag von West nach Ost geht zurück auf die im Westen wenig bekannte Psychiaterin Mieko Kamiya (1914-1979). Sie hat in ihrem Buch „Ikigai ni Tsuite“ (Über den Sinn des Lebens) das Ikigai-Konzept im Kontext ihrer eigenen Lebenerfahrung und ihrer psychotherapeutischen Arbeit in Japan bekannt gemacht. Gleich im ersten Kapitel nimmt sie Frankls Grundgedanken über den Sinn auf und stellt sich der Aufgabe ihrer Exploration.
2 Überwindung des Unglücks
Beide Ansätze machen die Annahme (und Erfahrung), dass man durch Sinn das Leid überwinden kann. Frankl hat in Konzentrationslagern erlebt, dass Menschen, die einen Sinn in ihrem Leiden sahen, eher überlebten. Kamiya machte eine ähnliche Erfahrung in ihrer Abeit mit Leprakranken. Sie bezeichnet mit Ikigai die Kraft und Motivation, Herausforderungen im Leben besser zu bewältigen.
Frankl arbeitet heraus, dass es drei Dinge gibt, die uns im Leben Sinn geben: Schöpferische Wert, d.h. die Erfüllung von Aufgaben; Erfahrungswerte, d.h. etwas zu erleben oder andere zu lieben; Einstellungswerte, d.h. die eigene Haltung gegenüber unvermeidbarem Leid. Diese drei Wertdimensionen weisen Parallelen auf zu den drei Aspekte, die für Ikigai wichtig sind: das zu tun, was man liebt, was man gut kann und was die Welt braucht.
3 Die individuelle Natur des Sinns
Sowohl Ikigai als auch die Logotherapie nehmen an, dass jeder Mensch seinen Sinn im Leben selbst finden muss. Frankl sagte, dass man den Sinn des Lebens nicht von außen bekommen kann. Man muss ihn selbst finden. So ist auch die Suche nach dem eigenen ikigai sehr persönlich und unterscheidet sich von Mensch zu Mensch.
Dabei ist Sinnfindung sowohl im Verständnis von Ikigai als auch Frankls Ansatz nach keine einmalige Sache und Aufgabe. Beide Philosophien sagen, dass man sein ganzes Leben lang nach dem Sinn suchen und ihn immer besser verstehen kann. Diese Sichtweise ermutigt dazu, sich im Laufe des Lebens weiterzuentwickeln und sich an neue Situationen anzupassen.
4 Kritik des Hedonismus
Beide, Frankl und die Ikigai-Befürworter, behaupten, dass man nicht nur nach Vergnügen und Glück streben sollte. Sie sagen, dass es wichtiger ist, warum man lebt, als dass man glücklich ist. Glück kommt oft von einem sinnvollen Leben, nicht vom Glück an sich. Studien zeigen: Wer ein Gefühl von Ikigai hat oder nach dem Sinn des Lebens sucht, ist psychisch gesünder, widerstandsfähiger und allgemein besser drauf. So zeigen beide Ansätze einen praktischen Nutzen für ein besseres Leben.
Ikigai betont, dass man verschiedene Lebensbereiche in Einklang bringen sollte. Dazu gehören Leidenschaft, Beruf und Berufung. Diese Sichtweise stimmt mit Frankls Sichtweise überein. Frankl sagte, dass es wichtig ist, in verschiedenen Bereichen des Lebens einen Sinn zu finden, zum Beispiel bei der Arbeit, in der Liebe und beim persönlichen Wachstum.
IV. Praktische Anwendungen
Frankls Arbeit hat Kamiya dabei geholfen, die Ikigai-Psychologie zu entwickeln. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man auf dem Gebiet der existentiellen Psychologie mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenarbeiten kann. Diese Verbindung von westlichem und östlichem Denken hat einen neuen Ansatz zum Verständnis des Lebenssinns geschaffen, der über kulturelle Grenzen hinausgeht.
Der Zugang zur Welt sowohl über ikigai wie über Frankls Philosophie kann uns helfen, unser Leben, Lieben und Erleben zu vertiefen.
- Selbstreflexion: Es ist wichtig, über sich selbst nachzudenken. Finden Sie heraus, was Sie gerne tun, was Sie gut können und was Ihnen wichtig ist. Das passt zum Vier-Komponenten-Modell von Ikigai und zu Frankls Meinung, dass jeder selbst für die Sinnfindung verantwortlich ist.
- Herausforderungen annehmen: Beide Ansätze nehmen an, dass man Herausforderungen als Chancen sehen kann. Wenn Sie ein Problem haben, fragen Sie sich, was Sie daraus lernen und wie Sie andere unterstützen können.
- Anderen helfen: Ikigai und Frankls Werk behaupten, dass es wichtig ist, etwas für die Welt zu tun. Finden Sie heraus, wie Sie Ihre Fähigkeiten und Leidenschaften nutzen können, um anderen zu helfen.
- Beziehungen pflegen: Beide Philosophien heben hervor, dass Liebe und Verbundenheit wichtig sind. Sorgen Sie für gute Beziehungen zu anderen Menschen.
- Seien Sie flexibel: Sinnstiftende Werte können sich im Laufe der Zeit verändern. Seien Sie offen für Neues und bereit, Ihren Weg zu ändern, wenn Sie wachsen und sich verändern.
- Seien Sie dankbar: Seien Sie dankbar für alles, was Ihr Leben wertvoll macht, auch wenn es nur kleine Dinge sind. Diese Übung hilft Ihnen, auch in schwierigen Zeiten motiviert und stark zu bleiben.
- Finden Sie Ihr persönliches Ikigai: Suchen Sie nach dem, was Ihnen wirklich wichtig ist und Ihnen Kraft gibt. Das kann in verschiedenen Bereichen Ihres Lebens unterschiedlich sein.
V. Schlussfolgerungen
Die Ähnlichkeiten zwischen ikigai und der Sinnphilosophie von Viktor Frankl zeigen, wie verbreitet die Suche nach Sinn ist. Wenn wir diese Ansätze verstehen und anwenden, können wir ein tieferes Gefühl für den Sinn entwickeln, widerstandsfähiger werden und ein erfüllteres Leben führen.
Die Weisheit von ikigai und Frankls Werk hilft uns, ein erfüllteres Leben zu führen. Es zeigt uns, dass wir auch in schwierigen Zeiten einen Sinn im Leben finden können. Diese Botschaft verstehen Menschen auf der ganzen Welt.
Wenn wir uns diese Prinzipien zu eigen machen und aktiv nach unserem eigenen, einzigartigen Ikigai suchen, ehren wir Frankls Einsicht, dass diejenigen, die ein „Warum“ zum Leben haben, fast jedes „Wie“ ertragen können.
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